15.08.2020, 10:16
(10.08.2020, 18:35)Klartexter schrieb: Ein unbekannter Leser/ eine unbekannte Leserin hat auf Zeit-online einen Artikel zur Berliner Demo kommentiert. Dieser Einschätzung kann ich nur voll zustimmen, sie bringt es auf den Punkt. Die Fettungen sind durch mich erfolgt.
Ich hatte ja schon in #83 auf den vor dir zitierten Text eines E-Zigaretten-Bloggers geantwortet, weil ich deine Zustimmung nicht so ganz verstehen konnte.
Vor allem bestimmte regelrecht undemokratische "Sentenzen" dieses Bloggers störten mich (u.a. die Gleichsetzung der Menschen mit fleißigen, aber willenlosen Ameisen, sein Geschwafel von der Kompetenzdiktatur, in der wir leben).
Jetzt findet sich auch im FREITAG eine sehr kritische Kommentierung dieses Bloggs. Aus der Sicht eines Linken.
Im Kern konservativ
Zitat:Nach der Corona-Demo reagieren viele linksliberale Kommentatoren mit Häme. In den Sozialen Medien gibt das Gratis-Applaus, der gesellschaftlichen Linken schadet es (...)
Viel ist gelacht worden über die Demonstranten, die am 01. August durch Berlin gezogen sind (...) Selbst renommierte Journalisten waren sich daher nicht zu schade, in heroischer Manier ein Bad in der pöbelnden Menge zu nehmen – vorgeblich, um das Gespräch zu suchen, mutmaßlich aber vor allem, um die Gefilmten bloßzustellen (...)
Dümmlicher hätte man die – in Form und Inhalt zugegebenermaßen abstoßenden – Proteste nicht analysieren können. Denn selbstredend bedeutet parlamentarische Demokratie, dass voraussetzungsfrei gewählt werden darf und dass jeder das Recht erhält, sich an gesellschaftlichen Fragen zu beteiligen. Auch ist die Behauptung einer „Kompetenzdiktatur“ in einem Land, das demnächst die Kanzlerwahl zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz treffen könnte, bestenfalls ein schlechter Scherz. Und was grundsätzlich daran schlecht sein soll, dass Menschen eben keine „Ameisen“ sein, sondern gehört werden wollen, wird im Text auch nicht ausgeführt (...)
Und dann hält er den begeisterten Followern des "schicklichen Teils" der Gesellschaft noch den Spiegel vor:
Zitat:Wer über eine geringfügige Kenntnis der deutschen Upper-Middle-Class verfügt, der weiß, wie tief in ihr der Glaube verankert ist, dass sich die ganze Welt gegen den fleißigen deutschen Spießbürger verschworen habe. In der Weltsicht manch eines Konservativen sind die Bösewichter wahlweise die EZB (erinnert sei an die Bild-Schlagzeile „So saugt Graf Draghila unsere Konten leer“), die den armen, deutschen Sparer enteignet, oder natürlich der Sozialstaat, der immer weiter ausufere. Das deutsche Bürgertum, das mit derselben Verachtung wie die Linksliberalen die Nase rümpft ob der sogenannten „CovMenschen“, ist nicht weniger besessen von Verschwörungsglauben, nur dass dieser nicht als solcher gebrandmarkt, sondern beinahe täglich auf Seite eins von bürgerlichen Zeitungen abgedruckt werden darf.
Das deckt sich ziemlich mit meiner Einschätzung, dass es auch unter den bürgerlichen "Linken" (den nicht-bürgerlichen sowieso) und Grünen nicht wenige Wirrköpfe und Esoteriker gibt, die das in ihrer vermeintlichen Selbstgewissheit weit von sich weisen.
Eskens verbaler Ausfall von den "CovMenschen" zeigt das ganze Dilemma dieser Überheblichkeit in erbärmlicher Weise. Und gleichzeitig auch das Manko. Denn es grenzt in dümmlichster Weise eine große Gruppe unserer Gesellschaft aus: die sozial Abgehängten und Benachteiligten, die eine Wut auf den Staat haben, der sich zu wenig um sie kümmert (jedenfalls zu wenig als um andere, die es ihrer Meinung nach weniger verdienten), die eher Bildungsfernen, die Skeptiker und Gegner staatlicher "All- bzw. Übermacht"), die eher Irrationalen (Esoteriker und religiöse Dogmatiker) und auch die Rechten, die den Sozis aus gewissen, oben bereits angedeuteten Gründen den Rücken zugekehrt haben und keine neue Heimat in den "Altparteien" gefunden haben.
Alles Gruppen und Schichten der Gesellschaft, um die sich die vor-Schröder-SPD noch intensiv kümmerte, die eine wichtige Klientel der SPD bildeten.
Dass an dieser Demo auch viele total verblendete Coronaleugner teilnahmen, die in ihrer eigenen Blase leben (wie auch die Reichsbürger), entschuldigt Eskens Fauxpas und das hämische Schenkelklopfen der medialen Kommentatoren nicht.