(30.07.2017, 18:22)leopold schrieb: Früher hat sich die Landbevölkerung auf Viehmärkten versammelt; seit einigen Jahren treten gehäuft überall solche Ritterspiele und Gauklerfeste auf. Die Flucht aus der Wirklichkeit und sinnbefreite Vergnügungen brauchen manche offensichtlich.
"Flucht aus der Wirklichkeit" ist nur ein ungenügendes Schlagwort, um die Begeisterung für alles, was mit dem Mittelalter oder der Zeit der Kelten und Römer zu tun, zu bezeichnen: Ritterspiele, historische Märkte, Gauklerwesen ...
Aber während die große Mehrzahl dies passiv konsumiert, gibt es nicht wenige Gruppen, die den Alltag früherer Epochen und historische Ereignisse nacherleben und nachspielen wollen, indem sie sich möglichst authentisch kleiden und mit authentischen Gegenständen des Alltags ausstatten, für eine meist kürzere Zeit, aber immer wieder.
Da sind die sog. Reenactors. Dann gibt es noch welche, die meist spontan und improvisiert Rollen aus bekannten Fantasy-Filmen und -Romanen und Videospielen nachspielen (Live Action Role Playings, abgekürzt LARPs).
Ich habe Bekannte, auch Arbeitskollegen, die entweder das Eine und oder Andere ernsthaft betreiben. Blöd sind die nicht, im Gegenteil. Haben halt andere Interessen.
Zitat:Die Faszination für die Epoche zwischen 500 und 1500 n. Chr. ist kein neues Phänomen, wie Thomas Scharff, Professor für Mediävistik an der Technischen Universität Braunschweig, erklärt: "Die Begeisterung für das Mittelalter verläuft historisch in Wellen." So gibt es schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein starkes Interesse für das Thema. In dieser Zeit des aufkommenden Nationalbewusstseins diente der mittelalterliche Rückbezug allerdings handfesten politischen Interessen. Die Verfechter eines deutschen Nationalstaates stilisierten die Herrschaft der deutschen Kaiser im Mittelalter zum historischen Ideal. In der gemeinsamen Vergangenheit fanden sie die Legitimation für ihr politisches Projekt: die Vereinigung des in Kleinstaaten zersplitterten Deutschlands (...)
Die Gründe für die heutige Idealisierung und Romantisierung des Mittelalters sind ähnliche wie bereits vor 200 Jahren. Die Industrialisierung von damals ist die Globalisierung von heute, ihr Effekt derselbe: Die Welt wird als kompliziert, hektisch und ungerecht wahrgenommen und die fortschreitende Technisierung als zunehmende Entfernung des Menschen von einem idealisierten Naturzustand. "Das Mittelalter hingegen wird als die Zeit angesehen, als der Körper noch unmittelbar der Natur ausgesetzt war", so Scharff. Ständige Berieselung durch die Medien, Hektik, Stress – all das erzeuge ein Bedürfnis nach Entschleunigung und Vereinfachung, nach einem "zurück zur Natur". ARTE
Mittlerweile ist aus relativ einfachen und sympathischen Anfängen eine riesige Marketing- und Geldmaschine geworden. Historische Fest und Ritterspiele überall. Die übliche Kommerzialisierung halt, wenn ein Nischenprodukt sich immer größerer Beliebtheit erfreut.
Andere vorwiegend junge Menschen suchen andere "Fluchtmöglichkeiten", besser gesagt Kompensierungsmöglichkeiten. Oft sogar andere Lebensentwürfe (meist auf Zeit) wie Urban Gardening, einfaches Leben in der Großstadt mit alten Möbeln, Barfußlaufen, Imkerei usw.
Darüber kann man natürlich lachen oder schmunzeln.
So zum Lachen aber ist es gar nicht, denn es weist auf eine offensichtlich ziemlich bedrückende Problematik im Leben des in unserer Zeit hin.