(18.06.2019, 11:09)Klartexter schrieb: Zu Deiner 2. Frage: Hans-Jochen Vogel ist kein Mensch, der seine politischen Einstellungen wechselt wie Du Dein Hemd. Er ist Realist und weiß sehr wohl um das Machbare in der Politik. Du unterstellst hier einfach mal der SPD, sie habe die soziale Gerechtigkeit nachhaltig zerstört. Damit zeigst Du das klassische Beispiel der Verdrängung von Tatsachen. Denn unter der Ära Kohl wurde der Wirtschaftsstandort Deutschland immer schwächer, da notwendige Reformen aus Gründen des Machterhaltes unterblieben. Gerhard Schröder hat das als Erbe übernommen, aber er hat zumindest politischen Mut bewiesen und Reformen durchgezogen.
Natürlich gab es da auch Verlierer, ich kenne keine einzige Reform auf der Welt, bei der es nur Gewinner gab. Aber wenn die SPD nach Deinen Worten die soziale Gerechtigkeit nachhaltig zerstört hat, dann stellt sich doch die Frage, warum die CDU nichts von den Reformen rückgängig gemacht hat. Sie hätte doch damit nur Beifall und damit auch viele neue Wähler bekommen können, und damit ohne Koalitionspartner regieren zu können!
Aber die CDU wusste genau, dass diese Reformen längst überfällig waren, und dass man selbst zu feige war, diese durchzuführen. Mit Gerhard Schröder hatte man nun einen Prügelknaben, der zusammen mit der SPD bei Wahlen abgestraft wurde. Gleichzeitig bekam man bei der Regierungsübernahme eine prosperierende Wirtschaft und konnte sich mit entsprechenden Erfolgen schmücken. Hätte Schröder keine Reformen durchgezogen, dann wäre er auch abgestraft worden, weil damals viele Firmen ihren Standort ins Ausland verlegt haben, weil dort die Bedingungen besser waren. Das hätte zu einer höheren Arbeitslosigkeit geführt, was die CDU als Beweis angeführt hätte, dass die SPD nichts von Wirtschaft versteht.
Trotzdem hätte dann auch die CDU Reformen durchziehen müssen, was ihr aber dank Schröder erspart geblieben ist. Ohne diese Reformen stünde Deutschland heute wirtschaftlich wesentlich schlechter da, was von Wirtschaftswissenschaftlern auch immer wieder bestätigt wird. Nach Ende des Kalten Krieges blieb auch gar nichts anderes übrig, weil die ganzen sozialen Wohltaten einfach nicht mehr finanzierbar waren! Man musste sich von der Vollkaskomentalität der 70er und 80er Jahre verabschieden, was natürlich auch zu schmerzhaften Einschnitten geführt hat. Deshalb zum Schluss auch ein Satz eines amerikanischen Präsidenten, weil Martin ja die USA sehr schätzt. Kennedy sagte einmal in einer Ansprache: Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, frage Dich besser, was Du für Dein Land tun kannst!
Sophie hat mir die Worte schon weitgehend aus dem Mund (oder in dem Fall aus der Tastatur) genommen. Vielen Dank dafür, Sophie!
Also möge die Kurzfassung genügen, die aber immer noch lang genug ist.
Ich wechsle meine politischen Einstellungen nicht wie mein Hemd, aber wenn sich eine Partei von Grund auf ändert, was die SPD in der Zeit, in der ich sie beobachte, getan hat, dann ist es mir natürlich auch erlaubt, sie nicht mehr zu wählen.
Angefangen hat das ja alles noch vor Schröder. Schon Helmut Schmidt war kein reinrassiger Sozialdemokrat mehr, jedenfalls nicht vergleichbar mit einem Willy Brandt oder Herbert Wehner. Allerdings waren in Schmidts Politik durchaus noch Züge der "alten" SPD zu erkennen.
Was aber Schröder getan hat, war Verrat. Und zwar in mindestens zwei Hinsichten. Erstens der Verrat an seiner Partei, indem er den schon als Kanzlerkandidaten gesetzten Oskar Lafontaine hinterrücks und hinterhältig weggeputscht hat und zweitens ein Verrat an denen, die die SPD mit Schröder als Spitzenkandidaten dann trotzdem wählten und die er mit einem "sozialdemokratischen" Wahlkampf köderte, um dann das genaue Gegenteil von sozialdemokratischer Politik zu machen. Und das nicht aus Versehen, weil er es etwa nicht besser wusste, sondern mit Absicht. Schließlich brüstete er sich hinterher in Davos noch mit seiner "grandiosen" Leistung, den "besten Niedriglohnsektor in Europa" geschaffen zu haben.
Ich bin sehr froh, dass es inzwischen mehr Leute gibt, die nicht mehr wie ihre Großeltern ihr ganzes Leben lang eine Partei wählen. Ich wünschte mir den deutschen Wähler noch viel volatiler. Eine Partei darf meiner Ansicht nach nur dann wiedergewählt werden, wenn sie ihre Wahlversprechen erfüllt hat (oder es im Rahmen einer Koalition, in der nun einmal Kompromisse nötig sind, wenigstens versucht hat). Andernfalls hat sie die Quittung für ihr Versagen zu bekommen, die sie sich verdient hat. Mit Sprüchen wie "Wir werden an unseren Wahlversprechen gemessen - das ist unfair!" (Franz Müntefering) disqualifiziert man sich selbst als ernstzunehmender Politiker. So jemand sollte nie wieder gewählt werden, und wenn Münte einen Rest von Anstand hätte, hätte er danach für alle Zeit den Mund gehalten und sich aus der Politik zurückgezogen. Wer soll so jemandem bitte jemals wieder ein Wort glauben?
Und der Punkt ist: Sicher war auch die Union versucht, Hartz-IV-ähnliche Arbeitsmarktreformen durchzuführen und die gesetzliche Rente zum Vorteil der Versicherungswirtschaft kaputtzumachen. Nur: Sie hätte sich das nicht getraut, weil sie zumindest so viel von Demokratie verstand, dass sie wusste, dass das mittel- bis langfristig ganz schlecht fürs Image ist. Und das Image einer Partei ist die Grundlage jedes Wahlergebnisses. Natürlich sah sie, nachdem die SPD das freundlicherweise erledigt hatte, keinen Grund, es rückgängig zu machen. Man hatte ja bekommen, was man insgeheim wollte, aber nicht wagte und einen Sündenbock, den man immer noch dafür verantwortlich machen kann, noch gratis dazu.
Das Kennedy-Zitat kannst du dir übrigens zusammenrollen und hinstecken, wo nie die Sonne scheint. Das ist typisch amerikanisch und nicht (mehr) auf Deutschland anwendbar. Das ist für Leute, die wenn vor dem Baseballspiel Shithole Lions vs. Loonietown Bulls die Nationalhymne gespielt wird, aufstehen und Tränen in die Augen kriegen. Die damit aufgewachsen sind, dass in der Schule jeden Morgen gebetet und dann die Hymne gesungen wird. Die sind konditioniert wie Pawlowsche Hunde. Wenn die Worte "my country" fallen, fangen die Augen an zu tränen. "Mein Land" hat für Amis eine Bedeutung, die es für Deutsche GsD schon lange nicht mehr hat. Man sollte sich vielmehr fragen, was die USA für den Rest der Welt getan haben. Wie woanders schon vor einer Weile geschrieben, war das hauptsächlich, ihn mit Kriegen zu überziehen, ohne jemals auf eigenem Territorium angegriffen worden zu sein. Und zwar so konsequent, dass zwar die Finger beider Hände nicht ausreichen, um die Jahre aufzuzählen, in denen die USA seit ihrer Staatsgründung ausnahmsweise keinen Krieg geführt haben. Aber wenn man die Zehen dazunimmt, reicht das schon fast. Es fehlen dann noch vier (glaub ich, müsste ich nachsehen, kommt aber annähernd hin).