20.05.2017, 13:05
Die Briten suchen verzweifelt den Grund für den Brexit:
https://www.welt.de/politik/ausland/arti...riten.html
Zitat:Das britische Establishment sucht nach dem Grund für das Brexit-Votum. Ist es die alte Tradition, Kinder in Eliteinternaten zu erziehen? Dort herrschten harte Sitten. Das formte ganz spezielle Eigenschaften.
Die Fassade steht, denn das schauspielerische Talent der Premierministerin ist beachtlich. Nach außen scheint Großbritannien unter Theresa May mit sich im Reinen. Die epochale Brexit-Entscheidung vor einem Jahr, dieser blinde Sprung ins Unbekannte, scheint dem nationalen Selbstbewusstsein keinerlei Abbruch getan zu haben. Ganz im Gegenteil. Brexit means Brexit. Alles bestens.
Theresa May lässt nicht den geringsten Skrupel durchblicken. Eine Strategie, die sie mit ihren immer etwas unpassenden Leoparden-Pumps auch modisch umsetzt: Im Zweifel tritt sie lieber eine Nummer zu aggressiv auf. Und wenn sie Brüssel, den vermeintlichen Gegner, dabei vor den Kopf stößt, nutzt sie dessen Ärger prompt dazu, die eigenen Reihen zu schließen.
Der zu erwartende Wahlsieg im Juni wird deshalb den Eindruck noch weiter verstärken, dass die Briten sich einig sind, dass sie wissen, was sie tun, und dass sie weit davon entfernt sind, mit sich zu hadern.
Doch der Eindruck ist falsch. Nach außen mag Brexit-Britannien die Contenance bewahren. In seinem Innern aber brodelt es. Seit mittlerweile knapp einem Jahr versuchen Theresa Mays Briten vergeblich, sich zu erklären, warum sie getan haben, was sie getan haben.
(...)
In keinem anderen Land der Welt wird die heranwachsende Elite so früh von den Eltern getrennt und Launen Fremder ausgesetzt. Bis heute sind Schulen der Schlüssel zu gesellschaftlichem Status, lebenslangen Kontakten und Macht.
Der Brauch, die Kinder ganz auf sich selbst zu stellen, lässt zwar zusehends nach. In den vergangenen 30 Jahren ist die Zahl der jährlichen Neuzugänge an britischen Internaten von etwa 120.000 auf 25.000 zurückgegangen.
Die Generation der heutigen Protagonisten ging jedoch noch aufs Internat – und deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche Spuren die Internatserfahrung in der Psyche der britischen Machthaber hinterlassen haben mag.
(...)
„BSS“ nennt die Psychologin Joy Schaverien jenes Trauma, das viele Alumni bis ins Erwachsenenleben verfolgt: „Boarding School Syndrom“ – Internatssyndrom. Wer daran leidet, tritt typischer Weise äußerst arrogant auf, legt großen Wert auf Unabhängigkeit und tut sich schwer damit, enge Beziehungen einzugehen. Die leidgeplagten EU-Partner der Briten können ein Lied davon singen.
Auch die so weltfremde wie hartnäckige Nostalgie, die das siegreiche Brexit-Lager geschickt instrumentalisiert hat, wurzelt zumindest teilweise in der Schulausbildung: Das Brexit-Votum erlaubte einer ganzen Generation von Kolonialherren ohne Empire, ihrem Unmut endlich Ausdruck zu verleihen.
Aus ihrer konservativen Sicht ist Europa für Großbritannien viel zu klein. Die wahre Bestimmung ihres Landes sehen sie nicht als Regional-, sondern als Weltmacht.
Und schließlich die anerzogene Rücksichtslosigkeit, ebenfalls ein Symptom von BSS. Den Internatszöglingen um David Cameron wurde seit der Finanzkrise vorgeworfen, Klientelpolitik zu betreiben, den Armen das Wenige, was sie haben, wegzunehmen, und ihre reichen Freunde zu verschonen. Die Wut der kleinen Leute war entsprechend groß.
Als dann Camerons alter Schulfreund Boris Johnson die Ränge brach und die Seiten wechselte, entgleiste der Wahlkampf vollends zu einer Art rücksichtslosem Rugbyspiel zwischen alten Rivalen.
Wie ein fieser Schulhoftyrann jagte Schatzkanzler George Osborne den Briten die größtmögliche Angst ein. Wenn sich nicht für Europa stimmten, würde er sie fertigmachen. Doch das Land ließ sich nicht länger von den Jungs aus dem Establishment einschüchtern. Die Strategie misslang.
https://www.welt.de/politik/ausland/arti...riten.html