09.07.2017, 11:50
(09.07.2017, 09:11)Serge schrieb: (...)
Welchen Anfängen? Denen der Anarchie? Denen des Beginns eines weltweiten Aufbegehrens - sowohl friedlich als auch militant - gegen die zunehmende Zerstörung einer sozial ausgewogenen und gerechten Welt?
Verursacht von einer seit Thatcher und Reagan (und nicht zu vergessen den Putschgeneral Pinochet in Chile) initiierten neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaften in den westlichen Industrieländer, beschönigt mit dem gerecht und harmonisierend klingenden Mäntelchen der Globalisierung, in Wirklichkeit aber eine weiter fortgeführte Ausbeutung der Entwicklungsländer, d.h. von deren Arbeitskräften - zum Schaden der Arbeitskräfte in den Industrieländern, deren Löhne somit gedrückt werden können. Von den fast schon standardmäßigen Verlagerungen der Produktionsstätten großer Unternehmen in Billiglohnländer des europäischen Ostens und dann in Länder der dritten Welt. Mit der Folge von Arbeitslosigkeit in den westlichen Industrieländern. Den Anfang - nicht den wirklichen, aber allen bekannten - machte damals Nokia mit der Verlegung des Bochumer Werks nach Rumänien.
(...)
Rücksichslose Gewalt in Form von Verschlechterung der Lebensverhältnisse bis hin zu finanzieller Not und Verarmung, damit einhergehend die Zerschlagung einer funktionierenden Gesellschaft, die auf dem Solidaritätsprinzip beruht, und die geistig-moralische Verslumung der Gesellschaft bis hin zu Rohheit und Gewalt - denn jeder ist sich selbst der Nächste.
Es ist ja nicht so ganz einfach, Ihrer (etwas wirren) Suada zu folgen, aber zwei Stellen in Ihrem Text (gefettet) sind mir aufgefallen, die auf den Grundirrtum Ihres Denkansatzes hinweisen: Sie behaupten, "seit Thatcher und Reagan" werde eine "sozial ausgewogene und gerechte Welt" zerstört bzw. eine "funktionierende Gesellschaft, die auf dem Solidaritätsprinzip beruht" zerschlagen. Wie geschichtsvergessen sind Sie eigentlich? Wie lange gab es denn diese angeblich "sozial ausgewogene und gerechte Welt" und vor allem wo?
Sie hatten das unfassbare Glück, dass Sie in Deutschland in eine Welt ohne Krieg hineingeboren wurden, in eine Gesellschaft, die gerade erst die Demokratie erlangt hatte und einen vorher nie dagewesenen Wirtschaftsboom erlebte. Eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nach der weitgehenden Zerstörung der alten Strukturen eine relative Chancengleichheit bieten konnte, die erstmals auch Frauen den breiten Zugang zu höherer Bildung ermöglichte. Dieses angebliche „Paradies“ währte von den 60er bis hinein in die 90er Jahre und war allein den Besonderheiten der geschichtlichen Verhältnisse geschuldet. Ich frage mich allerdings, wogegen in dieser besten aller Welten eigentlich die 60er-Bewegung und die RAF so erbittert kämpften. Diese Frage können Sie als Experte sicher beantworten.
Die Probleme der natürlich bereits schon damals auseinanderstrebenden Gesellschaft wurden schlicht durch die hohen Wachstumsraten (der zu verteilende Kuchen wuchs schnell) übertüncht und wenn es nicht so lief, wurden einfach exorbitante Schulden angehäuft (die wir übrigens heute noch zu bedienen haben). Nebenbei holte man in dieser Zeit massenhaft billige Arbeitskräfte ins Land, die man nach getaner Arbeit wieder nach Hause schicken wollte (auch mit diesen Problemen haben wir heute noch zu kämpfen). Die Ausbeutung der dritten Welt war übrigens) auch damals bereits in vollem Gange, sie wurde lediglich durch die beiden Weltkriege kurz unterbrochen und etwas umstrukturiert.
Und was war vorher mit der „sozial ausgewogenen und gerechten Welt"? Während des Krieges und in den 50er Jahren? Während der Wirtschaftskrise der 20er Jahre (ich empfehle mal eine Buch von Hans Fallada über diese Zeit zu lesen, da können Sie einiges über soziale Ungerechtigkeit lernen) und in den 30er Jahren? Wie stand es mit den Lebensverhältnissen der arbeitenden Bevölkerung während der Industrialisierung, die dürften ähnlich gewesen sein wie heute in den Werkbänken der westlichen Industrieländer im fernen Osten. Und vorher, als noch die überwiegende Zahl der Menschen in der Landwirtschaft tätig waren? Als Tagelöhner, Knechte , Dienstmägde?
Und nun zu heute: Was hat sich denn in den 90er Jahren geändert? Der eiserne Vorhang öffnete sich, die rasante Entwicklung der IT und der Containerschifffahrt ließ die Welt jedes Jahr etwas mehr zusammenwachsen. Deutsche Unternehmen und ihre Arbeitnehmer stehen heute im Wettbewerb mit der ganzen Welt. Glauben Sie, dass Sie diese Herausforderungen mit ihrem sehnsuchtsvollen Blick zurück in die angeblich so goldene Vergangenheit lösen können?
Ich habe vorhin einen größeren Bericht über die Firma Bosch gelesen: Dort arbeiten derzeit 380.000 Leute, die Hälfte des Umsatzes entfällt auf Produkte, die nicht mehr gebraucht werden, wenn das E-Auto kommt. Das sind die Probleme, die unser Land in naher Zukunft zu lösen hat. Steine werfen hilft da nicht weiter.