(19.02.2019, 13:55)messalina schrieb: Also ich glaube ja, dass der Artikel 1 eigentlich überschätzt wird und viel weniger sagt als es die Meinung ist? Da steht in Wirklichkeit nur "Die Würde des Menschen ist unantastbar", aber nicht "Die Würde des Menschen darf nicht angetastet werden". Das ist schon ein großer Unterschied finde ich. Weil das erste ist nur eine Feststellung, so wie "Krebs ist unheilbar" oder "messalina ist unnahbar" oder "das Kind ist unauffindbar" oder "ihre Gegensätze sind unüberbrückbar". Unheilbar, unnahbar, unauffindbar und unüberbrückbar heißt aber noch lange nicht, dass man es nicht trotzdem (ver-)suchen darf, oder? Oder liege ich da jetzt total falsch?
Klartexter hat es ja schon erklärt. Aber ich gebe auch noch meinen Senf dazu.
Das Problem am Art. 1 ist, dass er sehr abstrakt formuliert und nur wenig konkret ist. Ich persönlich hätte das wahrscheinlich etwas anders gemacht, aber wie genau, kann ich momentan nicht sagen. Das bedürfte reiflicher Überlegung und auch einer Diskussion mit anderen.
Also, der Artikel ist wie gesagt abstrakt, aber das muss er auch sein. Denn ein Gesetz soll ja möglichst alle Eventualitäten, die in Zukunft auftreten könnten und zum Zeitpunkt seiner Entstehung meistens noch nicht einmal absehbar sind, erfassen. Ein Gesetz ensteht natürlich auch unter bestimmten, durch die Zeit seiner Entstehung bedingten Umständen.
Also, was ist einerseits mit "die Würde des Menschen" und andererseits "nicht antastbar" gemeint?
Dazu müssen wir uns zunächst fragen: Wann entstand der Artikel und unter welchen Umständen. Und dann, warum. Und dann sind wir möglicherweise schlauer.
Das GG wurde 1948/49 entworfen. Deutschland hatte 1945, also drei oder vier Jahre vorher den 2. Weltkrieg verloren und zunächst nichts mehr zu sagen. Spätestens 1945 wurden auch die von den Deutschen begangenen Völkermorde und die Gräuel (schreibt man das jetzt so? Ich hatte "Greuel" schreiben wollen, aber meine Rechtschreibkorrektur meckert bei dem Wort) die in den Konzentrationslagern stattgefunden hatten, öffentlich. Man kann jetzt in Zweifel ziehen, ob die Deutschen die Vorgänge in den KZs wirklich erst 1945 mitbekamen; meine Oma hat mir erzählt, dass das schon viel früher jeder wusste oder zumindest wissen konnte, aber lassen wir das mal dahingestellt.
Die Nation befand sich also in einem Schockzustand in mehrerlei Hinsicht. Es hatte gerade den bislang verheerendsten Krieg aller Zeiten verloren, der "Führer" war plötzlich entzaubert worden und es waren abscheuliche Verbrechen allergrößten Ausmaßes aufgedeckt worden, die spätestens jetzt auch unter größten Anstrengungen von niemandem mehr ignoriert werden konnten. Und das Land stand unter Besatzung und hatte seine Souveränität verloren.
In dieser Situation kamen jetzt die Westalliierten auf die Deutschen in Trizonesien zu (die sowjetische Besatzungszone / DDR hat ihre eigene Geschichte) und verlangten von ihnen einen Entwurf für eine freiheitlich-demokratische Verfassung.
Verfassungen entstehen wie alle Gesetze nicht aus dem Nichts. Es wie mit bildender Kunst, Literatur oder Musik. Alles ist immer eine Variation von bereits Dagewesenem, aber mit mehr oder weniger neuen Elementen angereichert. Oder wie mit Wissenschaft, wenn dir das lieber ist. Die baut auch fast immer auf bereits vorhandenen Erkenntnissen auf und fügt ihnen neue hinzu. Nur ganz selten wird etwas völlig neues erfunden wie die Relativitäts- oder die Quantentheorie.
Worauf sollte man also zurückgreifen? Es bot sich eigentlich nur die Verfassung der Weimarer Republik an, die am ehesten das freiheitlich-demokratische Prinzip verkörperte. Aber auch diese konnte man nicht einfach abschreiben, denn vor allem der "Notstandsparagraph" darin hatte sich als fataler Fehler erwiesen, als Mechanismus zur Selbstzerstörung. Gleichwohl enthält das GG viele Elemente der Weimarer Verfassung.
Außerdem musste natürlich ins GG etwas hinein, das so etwas die KZs der Nazis und die unwürdigen Zustände, denen die Gefangenen, auch die, die nicht sofort vergast wurden, ausgesetzt waren, in Zukunft möglichst verhindern würde.
Platt formuliert könnte man Art. 1 GG also mit "Nie wieder Auschwitz!" paraphrasieren. Aber das trifft es eben nicht genau, denn es gab ja nicht nur Auschwitz, sondern z.B. auch Dachau, Buchenwald oder Sobibor. Auschwitz war zwar hauptsächlich ein Vernichtungslager, aber auch ein Arbeitslager. Es war sozusagen ein Zwischending zwischen Lagern, die nicht vor allem zur Vernichtung dienten wie Dachau oder Buchenwald und reinen Vernichtungslagern wie Sobibor, Treblinka oder Majdanek. Aber natürlich eines mit einer sehr starken Tendenz zum Vernichtungslager.
Und "Nie wieder Auschwitz" ist zu spezifisch für ein Gesetz. Ein hypothetisches KZ der Zukunft wäre mit ziemlicher Sicherheit nicht in Auschwitz, sondern ganz woanders und auch die Methoden und (Haft)-Bedingungen wären vermutlich andere. Das GG muss aber sämtliche denkbaren Fälle abdecken und sogar die, die zur Zeit seiner Entstehung noch nicht denkbar sind.
Aber auf jeden Fall wurde in den KZs (und natürlich auch anderswo) zur Zeit des Nationalsozialismus die "Würde des Menschen" "angetastet".
Und deshalb, damit so etwas möglichst nie wieder passieren kann, lautet der Art. 1 GG so, wie er lautet.